Wovon lebt der Mensch? Eine verblüffende Antwort auf diese Frage steckt in der Geschichte, die Rainer Maria Rilke in Paris erlebte:
Eine junge Französin begleitete ihn, als er an einem Platz vorbeikam, an dem eine Bettlerin saß.
Unentwegt hielt sie ihre Hand ausgestreckt. Sie blickte nicht auf, wenn jemand vorbeiging.
Sie blickte nicht einmal auf und zeigte keine Regung des Dankes, wenn jemand ihr etwas gab.
Rilke und seine Begleiterin gingen häufig diesen Weg, und immer saß die Frau am selben Platz.
Rilke ging immer vorbei, ohne ihr etwas zu geben, seine Begleiterin gab der Bettlerin häufig ein Geldstück.
Einmal fragte die Französin ihn, warum er nie etwas gab. Rilke sagte: "Ich werde ihrem Herzen etwas schenken, nicht ihrer Hand."
Einige Tage später brachte Rilke eine Rose mit und legte sie auf die ausgestreckte Hand der Bettlerin.
Er wollte weitergehen, aber er wurde überraschend daran gehindert.
Die Bettlerin sah ihn an, rappelte sich mühsam vom Boden auf, griff nach seiner Hand und küßte sie.
Dann ging sie weg. Die Rose trug sie stolz vor sich her. Tagelang blieb die Bettlerin verschwunden.
"Was mag mit ihr sein?", fragte die Begleiterin Rilkes, ohne eine Antwort auf ihre Frage zu finden.
Doch am nächsten Tag saß die Alte wieder an ihrem Stammplatz. Wie früher streckte sie nur die Hand aus.
Stumm und reglos wartete sie auf die Gaben.
Verblüfft fragte die Französin ihren Begleiter: "Wovon hat die Frau wohl in den Tagen gelebt, in denen sie nichts bekam?"
Rilke antwortete: "Von der Rose!"
Rainer Maria Rilke (1875 - 1926) |