Auf eine Christblume

I
Tochter des Walds, du Lilienverwandte,
So lang von mir gesuchte, unbekannte,
Im fremden Kirchhof, oed und winterlich,
Zum erstenmal, o schoene, find ich dich!

Von welcher Hand gepflegt du hier erbluehtest,
Ich weiss es nicht, noch wessen Grab du huetest;
Ist es ein juengling, so geschah ihm Heil,
Ists eine Jungfrau, lieblich fiel ihr Teil.

Im naechtgen Hain, von Schneelicht ueberbreitet,
Wo fromm das Reh an dir vorueberweidet,
Bei der Kapelle, am kristallnen Teich,
Dort sucht ich deiner Heimat Zauberreich.

Schoen bist du, Kind des Mondes, nicht der Sonne;
Dir waere toedlich andrer Blumen Wonne,
Dich naehrt, den keuschen Leib voll Reif und Duft,
Himmlischer Kaelte balsamsuesse Luft.

In deines Busens goldner Fuelle gruendet
Ein Wohlgeruch, der sich nur kaum verkuendet;
So duftete, beruehrt von Engelshand,
Der benedeiten Mutter Brautgewand.

Dich wuerden, mahnend an das heilge Leiden,
Fuenf Purpurtropfen schoen und einzig kleiden:
Doch kindlich zierst du, um die Weihnachtszeit,
Lichtgruen mit einem Hauch dein weisses Kleid.

Der Elfe, der in mitternaechtger Stunde
Zum Tanze geht im lichterhellen Grunde,
Vor deiner mystischen Glorie steht er scheu
Neugierig still von fern und huscht vorbei.

II
Im Winterboden schlaeft, ein Blumenkeim,
Der Schmetterling, der einst um Busch und Huegel
In Fruehlingsnaechten wiegt den samtnen Fluegel;
Nie soll er kosten deinen Honigseim.

Wer aber weiss, ob nicht sein zarter Geist,
Wenn jede Zier des Sommers hingesunken,
Dereinst, von deinem leisen Dufte trunken,
Mir unsichtbar, dich bluehende umkreist?


(Eduard Mörike (1804 - 1875)
© by agnes
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