Gedanken zum Jahreswechsel

Neujahrswünsche

Jeder wünscht sich langes Leben,
seine Kisten voller Geld,
Wiesen, Wälder, Äcker, Reben –
Klugheit, Schönheit, Ruhm der Welt,
doch wenn alles würde wahr,
was man wünscht zum neuen Jahr,
dann erst wär‘ es um die Welt,
glaubt es, jämmerlich bestellt.

Lebten alle tausend Jahre,
was gewönnen wir dabei?
Kahle Köpfe, graue Haare
und das ew’ge Einerlei!
Im erschrecklichen Gedränge
ungeheurer Menschenmenge
würden Stadt und Dorf zu enge,
und die ganze Welt zu klein.
Niemand könnte etwas erben,
denn es würde keiner sterben;
und wer möchte Doktor sein?

Jeder wünscht zum neuen Jahr!
Aber würde alles wahr,
dann erst wär‘ es um die Welt,
glaubt es, jämmerlich bestellt!
Wollet ihr die Welt verbessern,
(bloße Wünsche tun es nie,
Spiele sind’s der Phantasie!)

Wollet Ihr die Welt verbessern,
fange jeder an bei sich,
denn der Mittelpunkt der größern Welt
ist jeglichem sein Ich.
Dieses Ich wirft seine Strahlen,
einer innern Sonne gleich,
durch des Lebens weites Reich.
Wie es selber ist, so malen
sich die Dinge klein und groß,
prächtig oder farbenlos!

Heinrich Zschokke (1771 – 1848)

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